Atelierblätter III  2017

Erstmals stellten wir unseren Anlass dieses Jahr unter ein Motto: "locker locker", so hiess es und war uns Ansporn und Richtschnur zugleich. Entsprechend leichtfüssig machten wir uns an die Arbeit und stellten fest, dass sich unter den Begriff der Lockerheit eine ganze Mengen fassen lässt.  Aber schauen Sie selber!

Vier Schlüssel sind genug

Vier Schlüssel sind genug

Ihr war immer klar gewesen, dass sie einen Schlüssel behalten wollte. Es gab keine Unterlagen darüber, wie viele Schlüssel sie hatte zu dem Haus, das sie nun verkaufte. Sie hatte das Haus ja gebaut, ein Übernahmeprotokoll wie das bei Mietwohnungen der Fall ist, gab es nicht. Sie bekam fünf Schlüssel damals zum fertigen Haus. Es waren noch alle fünf da. Ihre Kinder hatten ihre beiden schon abgegeben. Einer hing stets an ihrem Schlüsselbund, einen hatte der Makler und der fünfte lag auch nach ihrem Umzug in die neue Wohnung in der obersten Schublade der alten Kommode im Eingang, in der kleinen Holzschachtel, in der sie auch andere Schlüssel sowie allerlei Krimskrams aufbewahrte. Die Käufer des Hauses bekamen vier Schlüssel. Vier genügten.
Sie machte einen letzten Rundgang durch das leer geräumte Haus. Ging von Raum zu Raum. Alles war blitzblank geputzt, das Reinigungsinstitut hatte gute Arbeit geleistet. Sie war froh, dass sie sich überreden liess, das Haus nicht selber zu reinigen. Das würde dir bestimmt zusetzen, meinte ihre Freundin. Stell dir vor, du schaust nochmals in jede hinterste Ecke. Erspar dir das. Es ist ja so schon schwer genug für dich. War es schwer für sie? Sie war sich nicht sicher. Aus dem Zimmer ihres Sohnes schaute sie auf den blühenden Kastanienbaum, den der Junge selber gepflanzt, gehegt und gepflegt hatte. Den hätte sie gerne mitgenommen, aber daran war nicht zu denken. Der Baum war schnell gewachsen, war gross geworden und Verpflanzen war nicht möglich. Wo hätte sie ihn auch einpflanzen sollen am neuen Ort? Sie musste lächeln. Dort war alles sauber abgezirkelt, bestimmt hätte sie eine Sonderbewilligung einholen müssen.
In einem der Badezimmer tropfte ein Wasserhahn. Sie drehte ihn ganz zu, schloss das Fenster und...

Blind Summit

Blind Summit

 

Was soll ich dazu nur schreiben? Zu blind summit? Zu diesem Bild? Da hat mir meine Cousine was eingebrockt. Über Bilder sprechen konnte ich noch nie besonders gut. Das ist jetzt wirklich schwierig. Aber den ersten Satz hab ich ja schon und muss also weiter. Denn gekniffen wird nicht. Nicht bei den Atelierblättern.

Nicht immer so viel denken, so rät man mir oft. Wie bloss, so frag ich jeweils zurück, wie bloss schafft ihr es, nur wenig zu denken? Antworten bekomm ich selten, zumindest keine vernünftigen, so dass ich vermute, dass andere das Denken bei Bedarf auch nicht einfach auf Sparflamme schalten können. Ich schau das Bild nochmals an, sein Name schwirrt durch meinen Kopf und fächert sich auf in seine Einzelteile. Wie kleine Eiskristalle fliegen sie durch die Luft, die verschiedenen Buchstaben und landen mit einem leisen Klick vor meinen Füssen. Ich hebe sie sorgfältig hoch, lege sie vor mich hin. Da liegen, in alphabetischer Reihenfolge:

1 b, 1 d, 2 i, 1 l, 2 m, 1 n, 1 s, 1 t, 1 u. Im Ganzen elf Buchstaben. Gleich rattert mein Hirn los:

 

Bin in Lind, summ summ. Bin mit Tim in Lind, du! Mit Tim in Lind!! Du, Lust ist bunt in Lind und Tim ist bunt. Du, bunt in Lind ist Tim, uiui. Bin nun in Lind mit Tim. Summsumm, bim bum. Mit Tim und Lust in Lind. Uiui!

 

Ganz pfiffig, nicht wahr? Und wird dem Bild durchaus gerecht. Denn auch dieses ist aus Splittern zusammengesetzt, die Lust machen, das Ganze zu erkennen. Man muss nur richtig schauen, schon taucht es auf. Genau wie die Kristallbuchstaben erzählt auch das Bild eine Geschichte. Und je nachdem, wo man mit Schauen beginnt, werden es sogar mehrere. Meine geht, verstärkt durch ein paar weitere Buchstaben, so weiter: ...

Effleurer

 

Manchmal, wenn Kathrin und ich durch den Wald stöckeln und sie wie jedes Mal sagt, sie könne dann nicht schnell, sie sei nicht fit und ich wie jedes Mal sage, das macht nichts, ich bin auch nicht so fit, lass es uns geruhsam angehen, beim Walken also, da kommen uns manchmal derartig komische Sachen in den Sinn, dass wir vor Lachen ins Stolpern geraten und uns nur mit Mühe auf den Beinen halten können. Es kann vorkommen, dass wir über eine lange Strecke die Stöcke hinter uns her schleifen, weil uns vor lauter Lachen die Kraft abhanden gekommen ist für einen seriösen Stockeinsatz. In solchen Momenten brauchen wir dann eine Pause, um uns die Lachtränen abzuwischen, die Nase zu schnäuzen und uns zu sammeln. Wenn wir einander angucken dabei, ist die Gefahr gross, dass eine von uns sogleich erneut losprustet, was die andere leicht auch wieder aus dem Gleichgewicht bringen kann.

Kürzlich waren wir auch unterwegs, die Sonne brannte uns ins Gehirn und der Schweiss rann in Strömen und wir plauderten über dies und das unter anderem auch über Sommerblumen oder ähnlich, als mir die unsägliche Erinnerung durch den Kopf schoss, die uns dann beinah zum Kollabieren brachte. Die Blumen waren es, die den Funken zündeten, die Sommerblumen am Wegrand und ich sah mich sitzen, als ganz junge Frau, ein Mädchen fast noch, in Südfrankreich vor dem Zelt oder in Salin de Giraud im heissen Sand, in der Hand ein kleines Taschenbuch aus der Reihe Harlequin, aus der ich mir jeden Sommer eines zu kaufen erlaubte. Mein Herz lechzte das ganze Jahr über danach, denn nirgendwo in der Literatur, die ich mir als seriöse Seminaristin üblicherweise zu Gemüte zu führen hatte, gab es grossartigere Lösungen von Liebeswirren und Liebesnot. Und wer da zusammen kam! Das wirkliche Leben hatte mir bisher nicht annähernd Vergleichbares geboten. Unter dem Titel von „améliorer mon Francais“ gestattete ich mir Jahr für Jahr den Genuss absoluten Gelingens der Liebe. Und das alles in französischer Sprache. Und da war es also, in einem dieser Bändchen, da stand der Satz, der mir unauslöschlich in Erinnerung geblieben ist und meinen Wortschatz aufs Lebendigste bereichert und die Fantasie beflügelt hat...

Hauptsache Herrgott

 

Als Ina weinend am Küchentisch zusammensank, stand Gotte Emma auf, kam zu ihr herüber und legte ihr ihre kleinen Hände mit leichtem Druck auf die Schultern. Der Herrgott wird dir weiterhelfen, sagte sie und drückte etwas kräftiger. Er wird dir die Einsicht verleihen in das, was ein Mann braucht. Er wird dich Geduld lehren und Verständnis dafür, dass der Mann nach der Arbeit müde ist, dass ihm nichts besser tut als deine Zuwendung. Der Druck ihrer Hände wurde fester. Durch den Pullover hindurch spürte Ina jeden Finger einzeln und dachte an Vogelkrallen. Streich ihm übers Haar, wenn er nach Hause kommt, gib ihm einen Teller Suppe, sagte Emma. Du wirst sehen, das renkt sich ein. Mit der Hilfe unseres Herrgotts renkt sich alles ein.

Wie soll ich ihm übers Haar streichen, wo er keine Haare mehr hat, dachte Ina böse und wand sich unter Emmas Händen. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Emma liess sie los, trippelte zurück zu ihrem Stuhl und setzte sich. Der Herrgott ist die Hauptsache, sagte sie und reichte Ina ein Taschentuch. Wenn du auf ihn vertraust, kommt alles in Ordnung, glaub mir. Sie öffnete ihre Handtasche und grub lange darin herum. Endlich zog sie ein ziemlich zerknittertes Blatt hervor und legte es vor Ina hin. Diese las den Titel, der sich in grossen Lettern über die Seite zog: Mit Gottes Hilfe zu einem glücklichen (Ehe)-leben. Da hast du es schwarz auf weiss, sagte Gotte Emma und glättete das Blatt sorgfältig mit beiden Händen. Befolg das mutig, das wird dir helfen. Sie strich immer wieder mit der Handkante über das Papier und las dazu mit lauter Stimme vor:

 

Punkt 1: Achte deinen Partner. Vergiss nie, was er für dich tut.

Punkt 2: Denke immer daran, dass dein Partner auch leidet.

Punkt 3: ...

Notfalldispositiv

Immer mit Handy

 

Die Stöcke sind noch im Auto, ich finde den Schlüssel nicht, der muss in den Jeans sein. Oder in der Jacke, aber welche Jacke trug ich gestern? Die grüne trug ich vorgestern, gestern die Jeansjacke. Da ist er ja, der Schlüssel. Jetzt die Laufschuhe, brauche ich den Faserpelz oder geht’s ohne, auf dem Balkon ist‘s noch kühl. Also den Faserpelz aus dem Schrank genommen, reingeschlüpft und auch noch das Stirnband, zur Sicherheit. Auch das Handy nehme ich mit, in letzter Zeit überlege ich mir immer, wenn ich allein joggen oder walken gehe, wie das denn wäre, wenn mir etwas passieren würde. Niemand würde mich kennen, wenn ich da zusammengekrümmt auf dem weichen Waldboden läge, weich immerhin, und wer mich fände, irgend ein Hundespaziergänger wohl, würde erschrocken die Polizei rufen und ich würde in die Gerichtsmedizin überführt im Fall, dass ich tot wäre und niemand vor Ort, der mich erkennen würde. Ich würde also in diesem Institut liegen in irgend einer Kühlbox, so stelle ich mir das vor und längst hätte man festgestellt, dass ich eines natürlichen Todes gestorben wäre und ich würde liegen bis meine Nachbarn merken würden, dass ich nicht da bin, dass das Auto immer vor dem Haus steht, dass kein Wohnungslärm zu hören ist, ich sie also nicht störe. Das könnte zwei, drei Tage dauern, weil sie ja auch die unerwartete Ruhe geniessen möchten. Dann aber würden sie sich doch wundern und die Treppe hochsteigen zu meiner Wohnungstür und klopfen und rufen und dann meine Kinder benachrichtigen, von denen eines einen Schlüssel zu meiner Wohnung hat. Die beiden würden kommen, erschrocken und verängstigt, denn was für ein Schock, so ei¬nen Anruf zu bekommen. Sie würden alles ordentlich vorfinden und weil sie wissen, dass ich normalerweise freitags walke mit meiner Cousine, würde es ihnen einfallen, diese anzurufen. Sie würden erfahren, dass meine Cousine...

Tausendfüssler

 

Als der alte Peter, unser Nachbar, aus was für Gründen ist mir nicht bekannt, einmal die Kunsthalle besuchte in Bern, muss er ein nachhaltig prägendes Erlebnis betreffend „moderne Kunst“ gehabt haben. Ich sehe ihn in seinem guten Wintermantel bei uns zu Hause in der Stube stehen, er kam immer zum Sonntagszmittag, heute trug er sogar Handschuhe, was selten war, er war richtig schön gekleidet. Er stand vor meiner Mutter, nahm gerade die Fellmütze vom Kopf, als ich die Stube betrat und ich hörte ihn sagen: Ich übertreibe nicht, du kannst es mir glauben, aber das könnte ich auch. Jeder könnte das. Auch du, sagte Peter, wandte sich mir zu und zupfte die Handschuhe, Finger um Finger von seinen Händen. Sie fielen zu Boden. Jetzt stach er mit dem befreiten Zeigefinger einige Male energisch in meine Richtung. Ich wusste nicht, wovon die Rede war und bückte mich, um die Handschuhe aufzuheben.

Mutter half dem Alten aus dem Mantel, versuchte, seine spürbare Aufregung zu dämpfen, indem sie ihm ein Gläschen Roten vorschlug. Aber er hörte gar nicht zu. Er ging mit langen Schritten durch die Stube, bis zur Tür und zurück, zur Tür und zurück und erzählte von seinem Kunsterlebnis. Es kann doch nicht sein, so sein Fazit, dass einer an so einem Ort ausstellen und sich Künstler nennen darf, der nichts weiter zu bieten hat, als zusammengeleimte Papierschnipsel! Zeitungsfetzen! Einfach aneinander geklebt, du siehst noch die Leimspuren! Riesige Bilder hat der gemacht, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen, bis an die Decke hoch und immer nur Schnipsel und Streifen und Fötzel aneinander geklebt. Es gab keine Farben und nichts Schönes, sagte Peter und sah uns nun endlich an. Nüt Schöns, gar nüt, meinte er und setzte sich in einen Sessel. Es lohnt die Mühe nicht, hinzugehen. Ich hätte mir den Eintritt sparen können. Und das Ärgerliche dabei ist, sagte er und klang auf einmal müde, dass du nicht mal drüber nachdenken magst, was das sein soll mit dieser Kleberei. Da hört man immer, Kunst rege zum Nachdenken an. Solche Kunst, er lachte höhnisch auf, stellt einem das Denken ab. Zack. Fertig. Da willst du nur noch raus.

Ich mochte unsern Nachbarn nicht besonders. Aber jetzt, wie er...

Strandgut

Dem Fluss gehört mein Herz
in seinen weiten Bögen
lagern meine Gedanken
gut aufgehoben

Flach in Rückenlage
die Ohren eingetaucht ins Fliessen
vernehm ich Steingeschichten aus Jahrhunderten
vertont. Nicht Dur, nicht moll

Das Haus am Fluss, in dem ich wohne
hat ein geheimes Zimmer für Strandgut
das ich sammle
und manchmal nachts
tret ich dort ein und
wünsch mir was.

Gerne können Sie die Atelierblätter bei mir anfordern.