Atelierblätter II  2016

In diesem Jahr liessen Kathrin Racz und ich uns gegenseitig von unseren jeweiligen Arbeiten inspirieren. Das heisst, ich schrieb Atelierblätter zu Bildern, die Kathrin mir vorgab und sie reagierte auf Texte von mir. Das Ergebnis hat uns selber verblüfft und ist uns Antrieb, weiter dran zu bleiben. Wir freuen uns schon, Ihnen im Frühling 2017 die nächste Ausgabe der "Atelierblätter" zu präsentieren.

 

Liebe Minnie-Mouse

 

Was machst du? Bist du am Singen? Bist du eine Sängerin? Fast sieht es so aus. Du trägst ein wunderbares Kleid, wie gerne hätt ich so eines, ein bunt ausgestellter Rock, ein breites rotes Elastband um den Bauch. Der BH, muss er grau sein für Mäuse?,  zeichnet sich unter dem Oberteil ab. Wie dünn deine Ärmchen sind, das tut mir leid für dich. Die solltest du trainieren, so schwächlich wie die aussehen. Dafür sind deine Hände umso kräftiger, die du in die nicht ganz schlanke Taille gestützt hast. Deine Knopfaugen leuchten glücklich, ein Lachen spielt darin und in deinem Körper liegt so viel Bewegungsfreude, dass ich jetzt eher denke, dass du nicht nur eine Sängerin, sondern vielmehr eine Tänzerin bist. Ja, du bist die geborene Tänzerin, das seh ich jetzt. Und die leuchtendrote Masche zwischen deinen Ohren unterstreicht deinen Humor, deinen Sinn fürs Komische. Sie gibt dir auch etwas leicht Frivoles und ich spüre, dass du gerne auffällst. Wenn du tanzt, dreht jeder sich nach dir um, Mensch und Mäuserich, und bewundert deine Grazie, deinen Schwung, die Beweglichkeit deiner Hüften, das Auf und Ab deiner Brüste, das fröhliche Schlenkern von Ärmchen und Beinchen. Wenn du tanzt, bewundert jeder dein Lachen, das Glänzen deiner Augen, deine rosigen Wangen, die zarte Haut und jeder, Mensch oder Mäuserich wünscht sich nichts sehnlicher, als mit dir zu tanzen. Du aber, du tanzt am liebsten allein. Wenn Tanzabend ist, lässt du deinen Mäusemann schon am Nachmittag aus dem Büro kommen, damit er die sieben Mäuselchen übernimmt. Du brauchst Zeit für die Vorbereitung, bürstest dir das Fell, lackierst die Krällchen, legst Lipgloss auf. Du polierst dein Schwänzchen, stellst die Ohren hoch und schlingst sorgfältig die rote Masche dazwischen. Ein letzter Blick in den Spiegel, eine Kusshand in Richtung Familie und du tänzelst davon. Mäuse können gut tanzen, das weiss ich von Vater. Als wir die winzige, zarte Maus in der Falle betrachteten, die sich aus ihrer geduckten Haltung aufgerichtet und so etwas wie ein paar Tanzschritte auf den Emmentaler Käse zu gemacht hatte, sagte er das und schaute gedankenverloren dem kleinen Tier zu. 

Halb sieben

 

Ich habe Mäuse immer gemocht. Die ganz kleinen gefielen mir sehr. Einmal war so eine in die Falle gegangen und tat sich an Vaters Emmentaler gütlich. Ich stand vor der Falle, an der Hand meines Vaters und dachte, was, wenn wir diesen Stinkkäse nicht reingetan hätten? Wäre die Maus dann trotzdem in die Falle gegangen? Vater meinte nein, Mäuse gingen nur in eine Falle, wenn etwas sie anlocke. Der Käse hat sie angezogen, meinte er und freute sich. Erst viel später begriff ich, dass er stolz war. Die Maus war auf seinen Käse hereingefallen, den er selber hergestellt hatte. Die Maus hatte einen unfehlbar guten Geschmack bewiesen, was Emmentaler Käse betraf. Sie knabberte begeistert die ganze Käsemasse um das grosse Loch herum weg und ihre Augen leuchteten dabei. Sie schien sich im Paradies zu fühlen, weitab jeder Todesdrohung. Ich sah ihre aufgestellten Schnupperhärchen, die kleinen Pfötchen, die sich manierlich um das Käsestücklein legten und hörte das leise Schnaufen, das sie beim Knabbern von sich gab. Die Maus ehrte meinen Vater. Ich tat es nicht. Ich hasste den Käse. Er stank. Ich hasste Vaters Beruf und schämte mich. Ich stellte mir vor, dass jeder und jede unfehlbar erraten konnte, woher ich stammte: aus der Käserei. Weiter unten in meiner Skala waren nur noch die Bauern. Bei denen stank es auch. Abends im Bett wog ich ab, was übler war: Mistgeruch oder Käsegeruch. Ich wusste es nicht...

Fleischwasser

 

Heute schreibe ich nicht im Atelier. Ich habe Sommerferien, es ist 37 Grad warm und mir wird übel beim Gedanken, dass ich in der Bruthitze hoch oben im Adlerhorst vor mich hin transpirieren würde, womöglich, nein ganz sicher, bis zur völligen Auflösung. Kathrin ist nicht da, ist in der Welt unterwegs und hätte dann, wenn sie das nächste Mal ins Atelier käme eine grausige Überraschung. Ihr Blick fiele rasch auf eine matschige, übelriechende Masse, die sich zu Füssen des Tisches und um die Stuhlbeine ergossen hätte und weitergekrochen wäre fast bis zur Tür, klebrig, grässlich in Farbe und Konsistenz. Ein wenig wie Fleisch und Haut und doch nicht. Jedenfalls fleischwasserfarben, exakt gemäss dem Ausdruck aus dem veralteten Gesundheitslexikon aus Seminarzeiten. Dort stand nämlich, dass Gebärmutterkrebs als erstes Anzeichen einen fleischwasserfarbenen Ausfluss erzeuge. Wenn man den habe, sei es aber schon zu spät. Nun gut, damit hat die Sache hier ja jetzt zum Glück nichts zu tun. Kathrin würde also gewiss einen lauten Schrei ausstossen, mit dem linken Fuss aufstampfen und entnervt brüllen: was zum Donner ist hier los? ...

Der gute Schatten oder was eine Mutter (und wohl auch andere Mütter) über ihre Kinder denkt, die keine mehr sind, aber doch welche bleiben

 

Nun geht ihr in die Welt hinaus und ich lasse euch ziehen. Ihr geht, weil ihr gehen müsst und ich bleibe, weil ich bleiben muss. Ich freue mich, dass ihr geht und ihr freut euch, dass ich bleibe. So soll es sein. Wir haben viele Wege gemeinsam gemacht. Nun ist eine andere Zeit angebrochen. Als ihr klein wart, zwei, drei Jahre alt vielleicht, hat sich einer von euch auf seinen wackeligen Beinen einmal auf einem sonnigen Spaziergang zu mir umgedreht und gesagt, dass es gut sei, wenn ich hinter ihm gehe und ihn an den Händen halte und er hat gefragt, ob ich da immer bleiben könne, an diesem Platz. Hinter ihm. Ich habe gesagt, dass das schwierig werden könnte, für ihn und für mich, da er ja wachsen würde und keine haltenden Hände mehr brauchen würde beim Gehen. Er hat meine Hände nicht los gelassen und im Weiterlaufen gesagt:...

Grosse Liebe

 

In diesem Sommer geht nichts über die Aare. Sie ist die Hauptperson sozusagen. Fast alle Menschen sind an der Aare, in der Aare, auf der Aare. Ich zwar nicht, auf der Aare bin ich nicht. Ich bin kein Böötlityp. Aber in der Aare schon. Jetzt wo sie so warm ist. Auch neben der Aare. Vor der Aare. Hinter der Aare? Weiss nicht ob das geht, hinter der Aare. Aber egal. Ich liebe die Aare. Ich liebe sie sehr. Ich liebe sie immer und immer wieder neu. Egal was sie tut. Ich rede auch mit ihr. Jeden Morgen und jeden Abend stehe ich auf meinem Balkon und rufe ihr etwas zu und nehme mir ihre Antwort zu Herzen. Ihre Antwort ist immer tiefgründig, wohl durchdacht. Sie kommt nie rasch und oberflächlich. Die Aare kann sich darauf verlassen, dass ich ihr meine Liebe nie aufkündige. Obwohl ich weiss, dass man ihn auch hassen kann, diesen Fluss. Ich kann das sogar verstehen. Wenn er daher kommt, als hätte er das Monopol auf kleine Keller, auf Waschküchen und Tiefparterreräume, auf Garagen und Ateliers und Läden und Beizen und Wohnungen und Schuppen. Wenn er anrauscht und sich wichtig macht und rücksichtslos alles überrollt, Menschen zum Fluchen und später zum Weinen bringt und Versicherungsfachleute an ihm verzweifeln, dann kann man ihn sehr wohl hassen. Ich verstehe das. Mir gegenüber weiss sie sich aber immer zu benehmen, die Aare...

Hirnforschung

 

Ich habe mir ja keinerlei Vorgaben gegeben für diese Atelierblätter, die da Woche um Woche entstehen. Ich habe mir nur gesagt, ich nehme den ersten Satz, der mir einfällt und schreibe den auf und dann einfach weiter so wie es kommt und das, was kommen will. Bisher ist ganz Unterschiedliches gekommen und was heute wird, werde ich in einer Stunden wissen oder so. Ich habe ja jetzt natürlich schon angefangen, der erste Satz ist schon gekommen und ich muss jetzt schauen, ob noch etwas Weiteres kommt bei dieser Hitze. Das wird sich gleich zeigen. Doch ja, da kommt etwas, und es ist dies, dass man auf der Autobahn so allerlei erleben kann. Da sind diese engen Spuren zur Zeit, wegen einer Baustelle anders gelegt als üblich und schon bremsen die Leute ab, als sei das Fahren auf einmal lebensgefährlich geworden. Als hätten sie nie eine Prüfung bestanden, sich Fahrpraxis erworben und nebst Autobahnfahren schon allerlei schmale und enge Bergstrassen gemeistert. Aber vielleicht, kann ja sein, haben sie das eben wirklich nicht. Die Bergstrassen meine ich. Kann ja sein, dass da lauter Leute unterwegs sind, die noch nie eine enge Bergstrasse eigenhändig befahren haben, sondern immer nur im Postauto. Oder es sind lauter Frauen, deren Männer sich ungefragt und ohne Absprache einfach immer in aller Selbstverständlichkeit ans Steuer gesetzt haben in der Annahme, ihre Frau wolle gar nicht fahren. Und mit der unumstösslichen Überzeugung im Hinterkopf, dass das auch gut sei so, denn sie, die Männer, könnten das ohnehin besser...

Leichenlicht

 

Die hei ganz sicher e Liich im Chäuer, sagte Vater mit vollem Mund. Tief vornüber gebeugt löffelte er die Kartoffelsuppe, brach ein Stück Brot, das er in der Suppe tunkte und als er es in den Mund steckte, war ein schlürfendes Geräusch zu hören. Ich kannte Nachbars Keller gut und staunte über Vaters Behauptung. Natürlich gab es dort Licht. Bei uns gab’s doch auch Licht im Keller. Eh was, sagte Grossmutter aufgebracht und laut und hielt den grossen Brotlaib vor der Brust fest. Doch nicht die Binggelis. Da gibt es nichts Solches bei denen, hör auf mit diesen dummen Gedanken. Und schwätz nicht. Die Kinder. Mutter war still und schaute in ihren Teller. Mein Bruder grinste frech und stiess mich unter dem Tisch ins Schienbein. Ich jaulte auf und stiess zurück. Vater schlürfte seine Suppe. Grossmutter sagte barsch: Ruhe, ihr beiden, sonst geht ihr vom Tisch. Mutter schwieg...

Gerne können Sie die Atelierblätter bei mir anfordern.