Tag 5: Vom Anfangen und Aufhören


Das Unglück

 

Schrittweise. Paarweise. Wie heutzutage die ewig wiederkehrende, doppelspurige Blechkolonne am Gotthard vor Ostern. Gleichzeitig schleuderten giftgelbe Windfahnen höhnisch Geschirr und Musikinstrumente um die Bäume, die barsten; brachten sie zu einem Getöse, als würden hunderte Azubis mit Gabeln auf Porzellan kratzen und endlos heulende Pfannen aufeinander einschlagen. Doch fangen wir vorne an, mit dieser Geschichte:

 

Es war Mai. Wie immer um die Mittagszeit fielen reife Früchte, Brötchen als auch vegane Bratenstücke vom Baum des Lebens, ordneten sich in den 50 Schüsseln auf den 50 Tischen, die in idyllischer Wiese auf ihre Gäste warteten. Leise fröhliche Harfenmusik schirmte den Ort vom Rest der Insel ab. Lorenzo war schon da, wartete ungeduldig - und nach fünf Jahren noch immer leicht nervös - am Tisch der Unverheirateten auf seine Lebensliebe. Lorenzo gehörte zur Gattung der Holzblumenechsen, war 746 Jahre alt, äusserst galant, noch stattlich, eigenständig, doch der einzige seiner Art.

 

Sein Häuschen stand am Meer, dahinter träumte seine knorrige Buche, die ihm das Radio ersetzte. Täglich fanden sich Vögel aus allen Himmelsrichtungen ein, die sich je ein Stündchen auf ihren Ästen niederliessen und Lori berichteten, was auf der Insel vonstattenging. Eines Tages hatte sich Hildechen dazugesellt und war bei ihm geblieben. Hildechen - so nannte er Hildegard liebevoll - war eines Morgens auf einem Maulbeerblättchen auf der Insel gestrandet. Als einzige ihrer Familie hatte sie einen fernen Orkan überlebt. Sie stammte aus einer raren, knallrot-punktlosen Marienkäfergattung und nannte Lorenzo liebevoll Lori.

 

Während Lori sich dieser Geschichte erinnerte, brach das Unglück über die Insel herein. Abrupt stoppte die Harfenmusik. Hildechen schoss wie ein wilder, wütender Pfeil herbei und knallte beim Aufprall gegen ein Tässchen. Derart schnell war sie herbeigeschossen, dass sich ihre Unterflügel und Beinchen heillos zu einem Knoten verheddert hatten. Noch auf dem bebenden Rücken liegend zeterte sie los: "Dieser greise Urochs! Lori! Dieser ur-ur-ur-dämliche alte, greise Trottel!" Sie schnappte nach Luft, was Lori die Gelegenheit gab, zärtlich den Knoten zu lösen und sie vorsichtig auf die Beinchen zu stellen. "Er hat doch tatsächlich heute Morgen mit dem Teufel Schach gespielt - bei UNS! Auf unserer Insel! … u-hu-hund …verloren!" Da war es raus! Hildechen fauchte noch eine Weile und brach dann schluchzend zusammen. Loris Schuppen färbten sich stahlgrau. Er dachte angestrengt nach, während er instinktiv Hildechen auf seine Tatze hob und sie mit der zweiten beschützte. "Vorbei ist's, mit dem Paradiesleben! Vorbei! - Alles vorbei!", hämmerte es hinter zugekniffenen Augen.

 

Bei besagten Schachspielen wurde jeweils um Land gezockt. Bewohner wurden verschont und um 14 Uhr von der Arche abgeholt, die sie nach Arkadien brachte: Päärchenweise! - was wohlbemerkt gattungsweise(!) bedeutete. Singles fielen dem Teufel zum Opfer und mussten das verlorene Land bewirtschaften!

 

Lori reckte den Rücken und stapfte zu seiner Hütte. Kampflos aufgeben kam nicht in Frage: es ging um Liebe oder Elend! Zahlreiche Pärchen zogen schweigend nach Norden. Sogar die Hyänen liessen Schwanz und Ohren hängen, schleppten sich, als müssten sie Zement buckeln. Gräser vertrockneten, Blumen versuchten ihr Erblühen rückgängig zu machen. Uferwärts nahm eine beissende Bise die Luft in Besitz.

 

Ums Häuschen brausten gellende Lacher. Lori und Hildechen setzten sich auf die Kiste, die damals dieser armenische Gast bei ihnen stehen gelassen hatte. Sie dachten nach. Viel Zeit blieb nicht. "Was ist eigentlich in dieser Kiste, Lori? - Hast Du sie je geöffnet?", fragte Hildechen, weil ihr nichts anderes einfiel. Sie hoben den Deckel und fanden nichts als eine knallrote Badekappe. Lori nahm sie in die Tatze und spielte damit herum. Plötzlich weiteten sich seine Nasenlöcher und er zog sich die Kappe über den Schädel. "Sie hat genau dieselbe Farbe wie deine Flügel, Hildechen!" Hildechen schneuzte sich, bis in ihr die Worte ihres Liebsten ein Fünkchen Zuversicht entflammten.

 

Kurze Zeit später standen sie in Reih und Glied vor dem Steg. Schrittweise. Paarweise. Wie heutzutage die ewig wiederkehrende, doppelspurige Blechkolonne am Gotthard vor Ostern. Gleichzeitig schleuderten giftgelbe Windfahnen höhnisch Geschirr und Musikinstrumente um die Bäume, die barsten; brachten sie zu einem Getöse, als würden hunderte Azubis mit Gabeln auf Porzellan kratzen und endlos heulende Pfannen aufeinander einschlagen. Zwischen ihnen und dem ersehnten Tor in die Arche stand nur noch ein einziges Pärchen. "Los jetzt, Lori! Zieh die Kappe runter!" forderte Hildechen und küsste ihren Liebsten noch ein letztes Mal. Lori zog sich die Kappe vom Schädel bis zu den Waden runter. Hildechen stellte sich auf seiner Schulter in Position und diktierte den Weg. In dieser Sekunde erfasste ein sengender Hitzesturm die Wartenden, presste Lori die Maske in die Nüstern und drückte ihm den letzten Schweisstropfen durch die Schuppen. Es pochte in seinem Schädel, als er keine Luft mehr bekam und ihn die Ohnmacht überkam. Während er fiel, wurde Hildechen in den Beutel der davorstehenden Kängurudame geschleudert, die soeben in die Arche eingelassen wurde.

 

Als Lori wieder zu sich kam, war die Arche bereits auf hoher See. Hildechen blieb verschwunden. Sogar der Teufel hatte Erbarmen mit Lori und liess ihn in seinem Häuschen leben, ohne Arbeitsleistung einzufordern. In der knorrigen Buche webten einige Erinnerungen. "Vielleicht kommt sie noch einmal davon!" redete Lorenzo sich zu. Sicherheitshalber behielt er seine rote Badekappe auf, so könnte ihn Hildechen auch von weit her sehen. Fortan, zu jeder vollen Stunde, nackt, nur mit einer knallroten Badekappe bekleidet, kletterte er unbeholfen und ächzend auf die alte, knorrige Buche hinter dem Haus, und schaute hoffnungsvoll aufs Meer.


Osterwörter

 

Dann fiel der Vorhang. Der Applaus war tobend, aber kaum zu hören, denn die hasenpfotenweichen Handschuhe dämpften die begeisterte Zustimmung des Publikums. Doch aus der Loge klang ein Gepolter wie von einer vorbei trampelnden Herde von Lämmern. Lorenz schaute sich um. Ihre Familie war also doch gekommen. Hildegard verbeugte sich auf der Bühne. Ihr schwarzes, krauses, glänzendes Haar funkelte im Bühnenlicht wie das Schlussbouquet eines Feuerwerks. Lorenz's Herz pochte bis zum Hals, so dass seine weissen Nackenhaare sich wie eine aus dem Meer aufsteigenden Qualle bewegten.

 

Begeistert wurden Osterglocken auf die Bühne geworfen. Dumpf prallten sie vom Vorhang ab. Klanglos fielen sie zu Boden. "Noch so einen Brauch" tobte die Menge, als hätte sie ein Jahr lang keine Nester mehr gesehen. Der Regisseur schüttelt dem Autor hinter dem Vorhang die Hände. Sie waren sich einig, nächstes Jahr musste wieder ein solcher Freitag her.

 

Die Begeisterung schienen aber nicht alle zu teilen. Aus einem Versteck im Orchestergraben flog ein buntes Etwas durch die Luft. Mit einem lauten Knall zerbarst es vor den Füssen der Angebeteten. Ein Raunen ging durch die Menge. Einige schreckten von ihren mit Holzwolle gepolsterten Plätzen auf. Der dadurch aufgewirbelte Staub gab dem sich anbahnenden Tumult den Anstrich eines Attentats. Reflexartig sprang Lorenz mit zwei, drei Sprüngen im Zickzack auf die Bühne. Torkelnd, mit dem Handrücken an der Stirn, fiel Hildegard ihm ohnmächtig in die Arme.

 

So nah war er ihr noch nie gekommen. Das Klischee des Dornröschenkusses missachtend näherte er seine Lippen den ihren. Sie schien wieder zu sich zu kommen. Ihre Nase rümpfte sich. Sie wendete ihren Kopf ab. Ein leiser Laut, der ihn im ersten Moment an ein Blöken erinnerte, entwich aus ihrem Mund. Das hatte er sich ganz anders vorgestellt. Offenbar war ihre Passion für ihn noch nicht erwacht. Als sein enttäuschter Blick auf das zerborstene Etwas auf dem Boden neben ihr traf, rümpfte auch er die Nase. Die Sache war klar, das Ei war verdorben.


Osternest

 

Eine Kunst. Aus Moos und Weiden- oder Haselruten, wie eine Höhle, sodass der heidnische Charakter des Osterfestes irgendwie sinnfällig wird.

 

Schoggihasen

 

Nix für mich. Zucker + Milch, Milch und Honig, Dolce Vita, Regression auf Säuglingsnahrung, all das bleibt mir verwehrt. Wenn ich es unbedingt haben will, gut, könnte ich es essen, aber dann zwei Wochen krank und unwohl – nee, dann lieber Schinkenbrot.

 

Osterlamm

 

Das Reine, das Unbefleckte, ach wie erhaben die Begriffe und Gedanken. Dabei schmeckt es einfach saugut, egal wie fromm die Begründung. Nur gut, dass ich es nicht schlachten muss.

 

Versteck

 

Ja, Verstecken ist ein schönes Spiel, Sachen verstecken, mein kleiner Erik kennt zurzeit nichts Lustigeres. Zum Glück ist er erst vier, da hab ich noch die Chance, etwas zu finden, was er versteckt hat.

 

Karfreitag

 

Feiertag, Ruhetag, freier Tag, manchmal auch Putztag, weil vorher so viel zu machen war, dass ich nicht dazu kam. Aber wenn ich mich mal einlasse auf die Passion und das Gedenken, und wenn ich verhindern kann, dass mich all die Gedanken an die Grausamkeit der Menschen in die seelische Tiefe stürzen, dann kann es auch ein Tag der Kontemplation sein.

 

Osterbrauch

 

Bei uns immer ein großes Familienfest, aber nicht an Ostersonntag, sondern am Samstag, zum Eierfärben. 150 Stück, alle kommen, jeder, der kann, macht mit. Wir kleben mit rohem Eiweiß die Osterkräutchen auf die Eier, kochen diese dann in Zwiebelschalenwasser, reiben dann vorsichtig im Abschreckwasser die Kräutchen ab und polieren die Eier am Schluss noch mit Speck oder Kokosfett. Und dann gibt es Chili, mit viel Zwiebeln, für alle.

 

Passionszeit

 

Ach ja, eigentlich sollen wir an das Leid Christi denken und uns besinnen, daran denken, wie schlimm Menschen sein können, welch unmenschliches Leid Christus erdulden musste… Aber ich bin auch ohne das schon oft genug depressiv, da teile ich mir's lieber ein, wie es zu mir kommt, nicht wie es der kirchliche Kalender vorsieht.

 

Osterglocken

 

Blumen oder Bimbam? Osterspaziergang von Faust mit Wagner, Erinnerungen an Kindheitstage, wo es noch Langeweile gab und die Verantwortung noch nicht so groß war.

 

Osterkräutchen

 

Manchmal müssen wir sie im Schnee suchen, manchmal ist es zwei Wochen vor Ostern schon richtig warm. Wir haben unsere Stellen, in Münchholzhausen auf dem «Roaberg», weiß der Himmel, warum der so heißt, da gibt es ganz schöne, feine. Nicht lang überlegen, ob ich das will, was ich da gerade tue, einfach machen, das ist der Vorteil von Ritualen. Und dieses hier ist meins.

 



Die Hälfte ihres Lebens

 

Sie schaute dem Zug noch lange nach. Fort war er, fort. Jedes Jahr wieder. Jedes Jahr am 18.März stand sie an diesem Bahnhof, an dem sie damals gestanden hatte.

 

Sie wusste: Wenn sie ihm nicht seine Sachen gepackt und ihn fortgeschickt hätte, wäre ihr Leben bald zu Ende gewesen. Entweder sie hätte ihm selbst ein Ende gesetzt oder die Psychosomatik hätte das erledigt. Mit so viel unerfüllter Sehnsucht, mit dieser Qual der Begierde, mit diesem Immer-wieder-Zurückgewiesenwerden konnte kein Mensch auf Dauer leben. Schon gar nicht sie.

 

Und dann die andere. Die bekam jetzt alles, was er ihr verweigerte. Für sie, Hildegard, blieb das Pflichtgeschäft – Strümpfe waschen, Kind versorgen, für gute Stimmung sorgen – und die andere hatte ihren Spaß, ohne Verpflichtung.

 

«Geh zu ihr», hatte sie gesagt. «Geh zu ihr, ich geb dich frei!»

 

«Wie? Woher weißt du?», fragte er. Das hatte er sich ganz anders vorgestellt. Diese Affäre sollte doch heimlich sein, das war doch das Köstliche daran. Und seine Rolle als Ehemann und Vater wollte er nicht aufgeben. Er liebte seine Frau, sie war sein Ein und Alles. Eine Heilige. Und gerade deshalb konnte er sie nicht mehr so berühren wie am Anfang. Eine Heilige berührt man nicht. Eine Heilige hat nicht solche animalischen Bedürfnisse. Eine Heilige kann man bewundern, in Ehrfurcht vor ihr kann man erstarren, aber das andere? Nein, das ging nicht mehr, das musste jetzt woanders geschehen. Warum verstand seine Frau das nicht? Es war die höchste Ehre, die er ihr zukommen lassen konnte.

 

«Woher ich es weiß?», fragte sie nun zurück. «Ich habe Augen im Kopf und Ohren daran, und dazwischen einen einigermaßen funktionierenden Verstand. Und der sagt mir, dass es keinen Sinn hat, irgendwelche Übungen zu machen mit Trennung auf Zeit oder sonstigem Unfug. Du würdest mich doch wieder nur belügen. Ich hasse es, belogen zu werden. Wenn ich jetzt an der Trennung sterbe, dann ist das so, dann musst du das Kind nehmen. Aber wenn ich überlebe, dann fang ich nochmal neu an, dann wirst du dich umsehen!»

 

Mit gekrümmtem Rücken und hängenden Armen war er in den Zug gestiegen. Er wusste, sie hatte recht, und er wünschte sich, es wäre nicht so. Er war nicht Herr in seinem eigenen Leben.

 

Sie hatte dem Zug nachgesehen, damals, vor 35 Jahren. Und immer noch musste sie jedes Jahr auf diesen Bahnhof gehen und diesem Zug nachschauen. Jedes Jahr die Hoffnung auf Heilung, und jedes Jahr ging es weiter wie vorher. 35 Jahre lang.

 

Jetzt war er weg, sie brauchte ihm nicht mehr nachzusehen. Ganz langsam ging sie aus dem Bahnhofsgebäude nach draußen.

 

Die Leichtigkeit des Frühlingstages traf sie unvorbereitet.


Lambretta und Aprilglocken

 

Lorenzo versucht sich auf seine geplante Reise zu konzentrieren. Langsam und nachdenklich schreitet er zu seiner verstaubten Lambretta im Schopf. Bevor er mit seinen drei Freunden, die erste Reise mit der vor kurzem gekauften Lambretta antreten kann, muss das Vehikel noch die Frühlingsputzete über sich ergehen lassen. Die schönste Lambretta im Seeland soll sie nämlich sein. Grün wie die saftigen Wiesen wird sie leuchten – gelb dazu dann die leuchtenden Aprilglocken.

 

Die vier Freunde, Rüedu und Alfredo mit Vespa, Edu und Lorenzo mit Lambretta – ziehen los in den nahe gelegenen Jura. Überwältigt von der gelben Pracht stoppen sie gleich bei der ersten Wiese. Sie pflücken Strauss um Strauss, schmücken die Motorräder, legen sich Blumenkränze um Hut und Hals. Stolz wie Könige wählen sie hurtig den kürzesten Weg für die Rückkehr. Daheim angekommen, können die jungen Männer es nicht missen, ein paar Runden zu drehen. Ihren Freundinnen, Verehrerinnen, heimlichen Geliebten werfen die Männer charmant und „nonchalant“ einen Strauss Aprilglocken zu.

 

Dass Lorenzo gerade Hildegard den grössten zuwerfen würde hätte sie sich nicht vorgestellt. Denn aller Anfang ist schwer – aber heute liegt meinem ein Zauber inne.


Übrig blieb ein angebissener Apfel auf dem Tisch, den die Abendsonne beleuchtete.

 

Hildegard sah den Apfel mit neuen Augen. Seit Jahren vermisste sie genau diesen Anblick, wie auch die schmutzige Wäsche auf dem Fussboden, ja sogar die genervten Blicke ihres Sohnes. Lorenzo! Sie gäbe viel darum, ihn zurück zu gewinnen mit all seinen Macken.

 

Hildegard hatte sich oft gefragt, wie es zum Bruch kam, wo genau der erste Riss in ihrer Beziehung entstanden war. Aber alles Grübeln brachte weder sie weiter noch ihn zu ihr zurück. Sie fühlte den Schmerz. Er glich einem andauernden Karfreitag, auf den kein Ostern folgen wollte. Lorenzo war nicht da. Er hatte sich aus ihrem Leben verabschiedet. Das hatte sie sich anders vorgestellt. Als Mutter wollte sie immer noch ein Teil von ihm sein, egal wo er sich aufhielt.

 

Nicht zum ersten Mal würde Hildegard das Rad gerne zurückdrehen. Dann hätte nicht das Nachbarskind den angebissenen Apfel auf den Gartentisch gelegt sondern Lorenzo. Längst hatte sie erkannt, dass nicht die erfüllten Pflichten, sondern die zwischenmenschlichen Beziehungen ihr Leben ausmachten. Sie hatte damit das pulsierende Leben verdrängt, ohne es zu merken.

 

Plötzlich stand das Nachbarskind mit einem selbstgepflückten Blumenstrauss vor Hildegard. Sein fröhliches Geplapper riss sie aus ihren trüben Gedanken. Sie nahm das Geschenk aus seiner Hand. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie erkannte, wie echt ihre Freude tatsächlich war. Denn hinter den Blumen hatte sie die unendlich kostbare Liebe des Kindes entdeckt. Bestimmt sahen ihre symmetrisch angelegten Blumenbanden nun anders aus. Aber in diesem Moment war es ihr einerlei. Sie fühlte sich beschenkt.

 

Die Leichtigkeit des Frühlingabends traf sie unerwartet.


Das Ende ist Schluss und Aus – aber Heute ist meines ein neuer Anfang!

 

Hildegard, eine rassige Frau in den besten Jahren, lebt in Salzburg. In ihrem Besitz ist ein gut gehendes Kosmetikstudio. Sie ist eine lebenbejahende, feinfühlige Frau. Liebt das Leben und das Leben liebt sie. Wenn die Agenda prall voll ist, verwöhnt sie sich mit

einem Pizzeriabesuch, weil Lorenzo ist begnadeter „Pizzajolo“.

 

Geboren in Apulien, hat auch ihn das Geldverdienen in den Norden gezogen. Sie beide verbindet eine Seelenverwandtschaft Italien – Österreich. Das Südländische Temperamente und die Leichtigkeit des „Sein“ wie Boot auf dem Meer. Gegenüber Felsenfester, klarer Gedanken und Gefühlen, eine traumhafte Mischung wie eine Skiabfahrt auf dem Gletscher. Einmal eine Pizza Quatro Statione, dazu gerne ein Glas Amarone bitte. Lorenzo schenkte ihr sein schönstes Armani-Lachen. Daraufhin sie ihn mit einem Augenaufschlag vom Schönsten belohnte, wie eine Mascara-Werbung.

 

Hildegard wusste, dass Lorenzo immer am Mittwoch frei hatte, darf ich dich zu einer Gondelfahrt und einem kleinen Jauseteller einladen. Zwei wie schwarze Oliven so dunkle Augen strahlten sie an. „Si grazie“, sehr gerne. Das hätte er sich ganz anders vorgestellt. Als sie in der Gondel bergwärts segelten fragte Hildegard wie aus heiterem Himmel: Lorenzo willst du mein Romeo sein und ich deine Julia?

 

Genau das Gefühl, das niemand von uns beschreiben kann, das wir alle irgendwie anders empfinden. Das wunderbare, nicht in Worte zu fassende Gefühl stand im Raum. Da lassen wir es stehen. Jeder der diese Geschichte liest hat die Freiheit, sich das Ende

selber auszudenken. Ob sie mit einem „Toppolino“ oder auf Skiern zur Kirche fahren! Lassen wir diese Frage unbeantwortet.

 

Die Leichtigkeit des Frühlingtages traf sie unvorbereitet.


Ich schaue dem Zug noch lange nach. Er ist verschwunden, wie er gekommen ist. Schon von weitem hat sein Signalpfiff seine Ankunft angekündigt. Ich warte, harre aus, am Waldrand ausserhalb der Station, bis er endlich den Bahnhof verlassen hat.

 

Heute Morgen rief mich Hildegard im Büro an, weinte gottjämmerlich am Telefon. Ihr Bruder ist gestorben, ein schrecklicher Unfall wars. Ihre alten Eltern bleiben alleine zurück auf dem wunderschönen Hof, 5 Stunden weg von hier. Was soll sie tun, wofür sich entscheiden? Sicheren Job, alle Freunde verlassen? Ich spüre, sie hat sich schon entschieden, denn sie informiert mich über die Abfahrtszeit. Hildegard weiß, ich auch, der Abschied wird uns sehr schwer fallen. Eine Viertelstunde vor Abfahrt sitze ich auf der roten Bank ausserhalb des Dorfes, wo wir so oft gesessen haben, ich warte. Der Zug nähert sich, ein ellenlanger Zug zieht an mir vorbei; ich halte Ausschau...verschwunden ist er, ich schaue dem letzten Wagen sehnsüchtig hinterher. Als ich meine tränenden Augen langsam hebe, da sass sie unweit von mir auf dem Felsen.


Geretteter Abend

 

Dann viel der Vorhang. Purpurrot. Purpurrot die Sessel. Kein Mensch, der sich bewegen will, sich aufmachen will den Saal zu verlassen. Wie angeklebt an die Sessel, benommen, erstarrt ist das Publikum. Hildegards Haarschleife zittert vom Hauch des angespannten Atems. Ihre Augen starren wie gebannt in den finsteren Saal. Der Vorhang, mächtig gewellt im Purpurschatten der

Dunkelheit, hängt unbeweglich in der erloschenen Szene. Das Publikum ist voller stiller, betroffener Erwartung. Kein Husten noch Hüsteln noch Räuspern. Fast hört man das Knistern der Spannung. Da! Der Vorhang bewegt sich sachte. Etwas Licht strömt von der Bühne her in den Saal. Plötzlich steht er da im Kegel des Scheinwerferlichtes: Lorenzo, der verlorengegangene Held des Abends! Alle haben sie getrauert um die charismatische Erscheinung, die die Herzen des Publikums an diesem Abend erobert hatte, zum Lachen gebracht hatte. Tobender Applaus, zitternde Knie, erlösende Tränen und das Aufatmen: Es darf noch gelacht werden!


Licht und Schatten

 

Dann fiel der Vorhang.

 

Das Publikum schenkte den Artisten und Spassmachern einen tosenden Applaus. Sie hatten es geschafft, mit ihrer Akrobatik, Zauberei sowie den humorvollen Einlagen eine Unbeschwertheit, ja, sogar Lebensfreude zu versprühen. Besonders die Clowns hatten Lorenzo aufgeheitert; in ihren bunten Kostümen, tollpatschigen Latschen, mit lustigen Faxen, irrwitzigen Grimassen spannten sie meisterhaft den Bogen zwischen Glanz und Grau. Für einen Moment konnte er sogar vergessen, was sich hinter der maskenhaften Fratze seines Schmerzes verbarg. Mit Fanfare, Trompete, Klarinette stolperten die Rotnasigen, gelb-Perrückigen mit Jubel und Trubel dermassen spassig über sich selbst, dass Lorenzo sich selbst darin erkannte. Nur wahrhafte Künstler verstehen es, das eigene menschliche Drama abzulegen, um derart überzeugend zu entzücken, berauschen, entrücken. Nun waren sie alle breit grinsend wieder aus dem lustigen Treiben entschwunden. Lorenzo zupfte an seinem verschwitzten Hemd, verliess schwerfällig die Tribüne, um sich die Füsse zu vertreten, bevor er in die Kutsche stieg. „Was liegt zwischen Anfang und Ende so geheimnisvoll unentdeckt, der Vernunft entgleitend, ins Unendliche abschweifend, versteckt? Ist es wirklich Gott“, fragte er sich, während er in seine Hosentasche fasste, um den zerknitterten Brief zu öffnen - immer noch zweifelnd, ob es eine grössere Zuneigung als die menschliche gäbe.

 

Er las:

 

„Werter Lorenzo 13. Mai 1122

 

Ich schreibe diese Zeilen während sanfte Gewässer die Mauern umspülen.

Noch immer kann ich deine Verzweiflung fühlen

Den Schmerz, der dich entstellt

Im Spiel von Licht & Schatten

Die Erinnerung an uns festhalten

Das weltliche Sehnen ist mir nicht fremd

Habe sie Stufe um Stufe überwunden

Meine Bestimmung nun hier gefunden

Ja, Gottes Ruf wird niemals enden

Unser Leben liegt in Seinen Händen

Wenn ich die Augen schliesse, seh ich dich lächeln

An der Seite einer andern schlendern

Deine Sehnsucht sich in Erfüllung wandeln

Lorenzo, wahrhaftige Liebe sollte stets frei

Sich in die offenen Herzen ergiessen

Ich hoffe, dir sei auch dies gegönnt

Dass du dich mit dir selbst versöhnst

Erkennst, warum es sich zu leben lohnt

Ich werde dich immer so lieben

Wie der Höchste, der über uns thront

Gott beschütze dich,

Deine Hildegard“

 

Ja, das hatte er sich anders vorgestellt.

Hatte närrischerweise gedacht, wenn es den Allmächtigen wirklich gäbe, er ihn nicht so leiden liesse, währenddem in ihr Glaube,

Hoffnung, Liebe in Strömen der Gnade überfliessen. Der Kutscher zügelte die Pferde.

Eine Dame mit zerzaustem Haar stieg ein, ihr wallender Rock verfing sich im Rad. Lorenzo bot ihr Hand, woraufhin der Brief lautlos - ohne dass er es bemerkte - zu Boden fiel. Sie bedankte sich lächelnd; der Wind spielte mit ihrem Haar, während Hildegards Worte mit dem Luftzug davon wehten. Die junge Frau setzte sich neben ihn; er spürte ihren Atem in seinem Gesicht. Er lächelte. Sie erwiderte. Die Leichtigkeit des Frühlingstages traf sie unvorbereitet.


Apfel und Tulpen

 

Übrig blieb ein angebissener Apfel auf dem Tisch, den die Abendsonne beleuchtete. Hildegard war enttäuscht. Das hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Rosa und sie würden in der Küche Kaffee trinken, dazu würde sie ihren weltberühmten Schokoladenkuchen servieren, den sie am Morgen in aller Frühe gebacken hatte, und später würden sie sich gemeinsam hinter den Herd stellen und aus all dem, was der Kühlschrank hergab, ein köstliches Abendessen zubereiten. So, wie sie das in den letzten Jahren immer wieder gemacht hatten. Rosa war ihre absolute Wunschschwiegertochter – und jetzt hatte ihr Sohn sie verlassen, aus heiterem Himmel. Sie hatte alles versucht, um zu erfahren, was hinter der plötzlichen Trennung steckte, aber Miro hatte ihr mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass das eine Angelegenheit zwischen ihm und Rosa sei und sie sich da raushalten solle. Hildegard konnte und wollte das nicht. Rosa gehörte doch längst zur Familie. Und wenn ihr schon ihr eigener Sohn nicht sagen wollte, worum es ging, dann würde sie es von Rosa erfahren. Zu ihrer Freude sagte Rosa sofort zu, als sie ihr vorschlug, auf einen Sprung vorbeizkommen. Klar komme sie, sie wolle sich natürlich noch persönlich verabschieden. Rosa kam mit einem Strauss Tulpen. Es sei nur ein kleines Dankeschön für all die Jahre, sie wisse schon. Ob sie es sich in der Küche bequem machen wollten, fragte Hildegard. Rosa trat hinein, sie habe aber nicht viel Zeit, sie sei auf dem Weg zu einem Abenddreh. Ausserdem möge sie Abschiede nicht, sagte sie. Dann fischte sie einen Apfel aus der Handtasche, wischte ihn kurz an ihrer Jeans ab und biss hinein. Das müsse auch kein Abschied sein, sagte Hildegard. Das mit Miro renke sich bestimmt wieder ein, schliesslich kenne sie ihren Sohn. Wenn sie sich da mal nicht täusche, sagte Rosa und legte ihren Apfel auf den Tisch. Es sei wohl besser, wenn sie jetzt gehe. Ob sie ihr denn nicht wenigstens sagen könne, was vorgefallen sei. Das müsse sie zuerst selbst begreifen, sagte Rosa kurz angebunden und wünschte ihr alles Gute. Hildegard ging ihr hinterher, aber Rosa stieg ins Auto und fuhr davon, ohne sich nochmals nach ihr umzudrehen. Hildegard lief weiter, erst quer über die Wiese, dann stieg sie hinauf zu ihrem Hausberg und hielt erst, als sie bei ihrer Lieblingsstelle angekommen war. Da sass sie, auf dem Felsen, und hatte nichts zu tun.


Coronavirus

 

Die schneeschmelze hat nebst ein paar leeren getränkedosen ein knallrotes etwas zutage gebracht. Lorenzo betrachtet die gegenstände mit hochgezogenen augenbrauen, die lippen zu einem strich zusammen gepresst. Ein schnauben entweicht seiner nase. Immer dieser abfall. Ob die leute wirklich glauben, bloss weil der schnee im moment des wegwerfens alles zudeckt, es würde im frühjahr verschwunden sein? Mühsam bückt er sich. Er schankt. Wenn er nicht umkippen will, muss er sich wieder aufrichten. Seine beweglichkeit reicht nicht um die büchsen aufzuheben. Dreiundachzig ist ein schönes alter, da darf das so sein. Am radio beschwören sie leute seiner generation zu hause zubleiben, da sie zur risikogruppe gehören. Lorenzo hat nicht vor sich eine krone aufbinden zu lassen. Er ist fit! Trotzdem einiges nicht mehr ganz so rund läuft wie früher, zum beispiel bücken. Aber sein herz pumpt noch bestens, die lunge ist unbeschädigt, da er nie geraucht hat. Er nimmt keine einzige tablette ein, auf jeden fall nicht regelmässig. Wenn er nicht einschlafen kann helfen Zellers forte schlafkapsel ganz gut. Eine solche würde er benötigen, hat er sich gesagt, falls er auch heute drinnen hocken bliebe. Den frühling hat er sich ganz anders vorgestellt: Lange spaziergänge, mit anderen leuten sich über das fortschreiten des wachstum unterhalten, lachen, die sonne geniessen, von Vreni zum kaffee eingeladen, wenn er sie über den gartenzaun grüsst. So wie jeden frühling. Aber dies jahr war nichts wie sonst. Jetzt wurde verlangt, sich mit niemandem zu treffen, zu jedermann zwei meter abstand zu halten, kein freundliches händeschütteln, keine umarmung. Beim einkaufen musste er eine nummer ziehen, die hände desinfizieren, in der schlange warten, andere machten einen bogen um ihn herum, mit einer bankkarte bezahlen. Wie wenn er sich den blöden code merken könnte. Na ja, die frau an der kasse hatte ihn mit den augen über einem mundschutz angesehen und genuschelt: sie bezahlen sicher lieber mit bargeld. Er hatte sie angelächelt und das geld abgezählt.

 

Eine frau von der kirchgemeinde hat ihn angerufen. Er solle hilfe annehmen. Er müsse nur eine liste abgeben, dann würde ihm alles vor die haustür gestellt. So müsste er gar nicht nach draussen gehen und könne nicht angesteckt werden. Aber ohne einkaufen hat er gar nichts mehr zu tun. Abgesehen davon, dass er es ohne bewegung nicht lange aushält. Natürlich hat er gezögert. Hat lange aus dem kleinen fenster neben der haustüre nach draussen gespäht. Sehnsüchtig die osterglocken betrachtet, die ihm aus der rabatte neben dem plattenweg zuzwinkern.

 

„Die finden auch ich soll raus kommen.“ Seit Lisbeth tot ist spricht er oft laut mit sich selber. Wen soll das stören, im haus ist ausser ihm niemand mehr. Gianni lebt in Zürich. Sylvia? Wo ist die zurzeit? In Kenia? Nein das war früher. In Algerien? Nein das land hiess anders. Syrien? Kann sein. Ist ja auch egal, auf jeden fall weit weg.

 

Die osterglocken schaukelten sanft im frühlingwind. Er glaubte sie bimmeln zu hören: „Komm raus, komm raus, komm raus.“ Verboten ist es ja nicht, auch nicht für die alten hat er sich gut zu geredet. Er hat sich auf den stuhl gesetzt, an dessen lehne klein Gianni einst schnitzen übte. Es sieht nicht schön aus, aber die erinnerung wird so wach gehalten. Gefütterte winterstiefel mit reisverschluss, den grauen wintermantel, den Lisbeth noch ausgesucht hat, den violetten schal - so ausstaffiert steht er nun da, vor den bierdosen.

 

Ein rundumblick bestättigt ihm, dass er alleine ist. Vorsichtig kickt Lorenzo eine dose richtung baum-bankt-abfallkorb. Geht doch! Das rote dinge wickelt sich zu erst um seinen stiefel, fliegt danach aber in grossen bogen in die gewünschte richtung. Die balance haltend stubst er die büchsen vor sich her. Eine hand auf der sitzbank, so lassen sich die drei aludosen entsorgen. Eigentlich gehören sie ja in den recyclingcontainer, aber mitschleppen ist doch etwas zuviel verlangt, findet er. Nun noch das rote ding. Es muss noch etwas näher an die bank heran. Jetzt kann er es greifen.

 

Was ist das überhaupt? Lorenzo wendet und dreht das teil in den händen herum.

 

„Eine badekappe. Eine knall rote frauen badekappe.“ Ohne zögern stülpt Lorenzo das teil über seine weisse, viel zu lange haarpracht. Er lacht schallend. „Ich bin ein coronavirus. - Zum glück darf noch gelacht werden!“


Im Hühnerstall

 

Dein verträumtes Schokoladen-Ei legendes Öko Hühnchen. Dieser Satz liess Lorenzo den Kamm schwillen. Lorenzo ein prächtiger, stolzer und eitler Orpington Hahn war verwirrt. Seine fleissigen Hennen, die bis zu 180 Eier im Jahr legen waren in der Regel genügsam und bescheiden. Als Macho der alten Schule war er es gewöhnt im Mittelpunkt zu stehen. Wie kommt diese zugegebenermassen recht hübsche Henne mit ihrem Gesäusel nur dazu, ihm so den Kopf zu verdrehen. Hildegard, diese Birkenstock Tussi mit ihren farbenfrohen, geringelten Socken und ihrem fordernden Blick verunsicherte ihn total. Das hätte er sich ganz anders vorgestellt.

 

Schon der Gedanke, dass Hildegard Schokoladeeier legen soll, verknotete seine Eingeweide und er musste sich fast übergeben. Was wohl Köbi der Bauer sagen wird, wenn er statt ein prächtiges, mindestens 53 Gramm schweres weisses Ei so ein unansehnliches, kleines braunes Schokoladeei in seinen mächtigen Pranken hält?

Ganz abgesehen von den Konsequenzen. Wie würden seine dreitausendachthundertsiebenundsechzig Hennen reagieren, wenn sie von Hildegards Schokoladeeiern erfahren würden? Entweder würden sie Hildegard boykottieren oder was noch viel schl immer wäre, sie würden Hildegard nötigen, ihnen die Legeanleitung für Schokoladeeier preiszugeben. Man stelle sich vor, alle Hennen legen ab sofort nur noch Schokoladeeier. Das ergäbe jährlich über sechshundertsechsundneunzigtausend Eier.

 

Lorenzo wurde es schwindlig. Sein Blutdruck stieg auf zweihundertdreissig. Haben die Schokoladeeier auch eine Eierschale? Wenn nicht, gute Nacht. Ein grosser Teil der Eier würde unter dem warmen Bauch der Henne schmelzen wie Eis an der Sonne.

 

Kikikeriiii!!!! Beinahe wäre Lorenzo von seiner Stange gefallen. Flügelschlagend kann er sich noch mit Müh und Not festkrallen.

mit Müh und Not festkrallen.

 

Es war nur ein böser Traum. Es darf noch gelacht werden.


Lichtblick am Ende des Tunnels

 

„Komm“, lud sie ihn ein, „jetzt gehen wir dort hinein!“ Fest entschlossen zieht Hildegard Lorenzo am Arm und schreitet vorwärts. Lorenzo strauchelt kurz, fängt sich wieder und passt sich dem Tempo von Hildegard an. Die beiden gehen auf eine dunkle Höhle zu. Neugierig nähern sie sich und je grösser der Eingang der Höhle wird, desto kleiner ihre Entschlossenheit. «Was, wenn sich darin ein Ungeheuer befindet?», fragt Lorenzo ängstlich. «Rede keinen Unsinn! Ungeheuer gibt es nur in Gruselfilmen!», erwidert Hildegard und geht weiter, wenn auch etwas langsamer. Als sie durch den Eingang schleichen, raubt ihnen die Dunkelheit des Innern der Höhle jeglichen Mut. Ängstlich klammern sich die beiden aneinander. Nach mehrmaligem Blinzeln erkennt Hildegard plötzlich ein kleines Licht, das, wie von Zauberhand bewegt, in der Luft tanzt. «Ein Glühwürmchen!», ruft sie aufgeregt und schlägt sofort die Hand vor den Mund. «Pssst!», sagt Lorenzo, der sich bis dahin noch nicht getraut hat, etwas zu sagen. «Pssst, Hildegard! Wer weiss, was sich in dieser Höhle sonst noch befindet!» Das Glühwürmchen bewegt sich vorwärts und spontan folgt Hildegard dem Lichttüpfelchen, an der Hand ihr kleiner Bruder Lorenzo. Mit dem Licht des kleinen Tierchens können die beiden sehen, dass die Höhle ein langer Gang ist. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch und trotzdem sehr neugierig schreiten die beiden vorwärts. Plötzlich sehen sie ein immer grösser werdendes Licht. «Da vorne ist der Ausgang!», flüstert Hildegard Lorenzo zu. Und tatsächlich – das Licht des Glühwürmchens wird immer schwächer, Zeichen davon, dass die Umgebung immer heller wird. Auf einmal stehen Hildegard und Lorenzo direkt vor dem Ausgang. Mit grossen Augen und wachen Ohren schauen sie sich um. Lorenzo lässt vor Staunen die Hand von Hildegard los. Reglos und staunend blicken sie nach vorne. Vor ihnen liegt ein Wald, wie sie ihn noch nie gesehen haben! Die Bäume ragen bis in den Himmel und ihre Kronen sind luftig wie Zuckerwatte, der Boden ist übersät mit bezaubernden und glitzernden Blumen in Lila, Rosa und Türkis und es fliegen die farbigsten Vögel durch die Luft, die Hildegard und Lorenzo jemals gesehen haben. «Hallo! Seid willkommen!», ruft plötzlich eine tiefe Stimme. Die beiden Kinder erschrecken sich und Lorenzo greift nach der sicheren Hand seiner grossen Schwester. «Wer spricht da?», fragt Hildegard unsicher. Da tritt ein grosser, majestätischer Hirsch aus dem Wald und stellt sich vor die überraschten Kinder. «Ich bin Toivo und bin der Prinz dieses Zauberwaldes. Kommt mit.» Gespannt folgen ihm Hildegard und Lorenzo. Ihre Augen schweifen hin und her und ihre Ohren hören verschiedenste Geräusche. Sie gehen an einem goldenen Wasserfall vorbei, treffen auf eine Fuchsmutter mit vier verspielten Fuchskinder, alle mit einem Fell in Regenbogenfarben und hören lautes Brüllen, Zwitschern und Heulen. «Das ist doch nicht möglich! Diese Tiere in ihren Farben, goldenes Wasser, ein sprechender Hirsch! Alles das ist doch nicht echt!», flüstert Hildegard ungläubig und fasziniert. Abrupt bleibt Toivo stehen und die Kinder richten ihre Augen auf das, was vor ihnen liegt – eine Blumenwiese, bunter als ein Regenbogen und mittendrin, auf einem Bett aus Orchideen und weichen Tüchern liegt ein wunderschönes, schimmerndes und faszinierendes Wesen. Ein Wesen mit einem Kopf weicher als Samt, einem Körper stärker als Eisen, Flügeln grösser als Segel und Beinen goldener als die Sonne. Bezaubert stehen die beiden Kinder da und können ihre Augen nicht abwenden. «Das hier ist Hiwa, unsere geliebte Königin. Sie regiert in diesem Zauberwald mit Liebe und Fürsorge.», sagt Toivo stolz und ehrfürchtig. «In diesem Wald leben alle Tiere friedlich beieinander, begegnen einander mit Liebe und sor……

 

«Haaaaatschi!» Hildegard niesst. Sie blinzelt und schlägt die Augen auf. Die warmen Sonnenstrahlen haben sie aus ihrem Traum gekitzelt. Sie lässt sich zurückfallen und blickt in das makellose Blau des Himmels. Auch sie liegt auf einer Blumenwiese, keine in Regenbogenfarben, dafür eine in strahlendem Gelb. Sie wird wieder ruhig, hört der Natur zu und leise läuten die goldgelben Osterglocken, eingebettet im zarten Grün der Frühlingswiesen den Tag ein.


Das Ende ist Schluss und aus in jeder Krise der Herausforderungen. Hildegard hatte noch keine Ahnung wie die Trennung von Lorenz ein happy End zu Gunsten der Beiden sich entwickelt. Aber heute ist ein Neuanfang bei Hildegard.

Ihr Herz zog sich zusammen wie ein Fussball, der die Luft verliert.

An einer Flickarbeit der Löcher hatte sie kein Interesse. Das Grübeln füllte ihren Kopf so prall, dass die Verkettungen ihrer Gedanken zu einer Verunsicherung von Ende und Schluss führten.

Dann fiel der Vorhang.

Sie blinzelte , rieb sich die getränkten Augen.

Totenstille tanzt der graue Nebel um die verstorbenen Gedanken. Heute aber ist endlich ein Anfang in Sicht. Sie betrachtet die Osterglocken, sieht den Zauber, welcher sanft leuchtet durch das Grün der Wiese und ihr den Neuanfang zu Füsse legte.